„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 16. Mai 2010

Neurophysiologie: Abschließendes zu Metzinger

Was Metzinger dem Leser seines „Ego-Tunnels" vor allem schuldig bleibt, sind saubere Definitionen. Zur Erinnerung: das „bewusste Erleben" ist eine „Simulation und bringt das Subjekt des Erlebens niemals in direkten Kontakt mit der Wirklichkeit." (Vgl. „Ego-Tunnel", S.95) – Das ist so einer der im Buch verteilten Statements, die einen so unbefriedigt lassen, weil keine der darin enthaltenen Begrifflichkeiten definiert ist. Was ist „Simulation" (oder „Illusion", oder „virtuelle Realität")? In welchem Verhältnis steht sie zur „Wirklichkeit" (zur „Wahrnehmung", zum „Körperbezug", zur „Außenwelt")? Hätte Metzinger präzise Begriffe, dann müßte er sich begrifflich nicht so schwammig ausdrücken, wenn es z.B. darum geht, die durch unsere Sinneswahrnehmungen veranlaßten ‚Simulationen‘ unseres Wachbewußtseins von den intern veranlaßten Simulationen unseres Traumbewußtseins zu unterscheiden: das „virtuelle Selbst" des Traumbewußtseins ‚definiert‘ Metzinger lediglich als „in einem noch stärkeren Sinne" „ausschließlich internes Phänomen" als das virtuelle Selbst unseres Wachbewußtseins. (Vgl. „Ego-Tunnel", S.197)

Diese vage Definition von Traum- und Wachbewußtsein erhöht die (nicht nur) begriffliche Verwirrung: Das virtuelle Selbst ist also ein „ausschließlich internes Phänomen"? Es gibt also keinerlei Beeinflussung durch äußere Phänomene, z.B. über die Sinneswahrnehmung? Wie kann es dann ein zweites virtuelles Selbst geben, das „in einem noch stärkeren Sinne" „ausschließlich intern" simuliert ist? Gibt es denn graduelle Unterschiede in der Ausschließlichkeit der Simulation? Ist also das eine virtuelle Selbst, das des Wachbewußtseins, etwas weniger ausschließlich intern? Ist es letztlich doch, zumindestens ein bißchen, von außen beeinflußt?

Ins geradezu Absurde steigert sich das begriffliche Defizit des Philosophieprofessors, wenn er „auf der Ebene des bewussten Erlebens" das Leiden zum Thema macht. (Vgl. „Ego-Tunnel", S.270ff.) Es ist nachvollziehbar, daß es so etwas wie simuliertes Leiden gibt, – z.B. bei Hypochondern. Aber es ist unerträglich, das Leiden selbst als bloße Simulation zu imaginieren. Selbst auf der Ebene des Schmerzempfindens gesteht Metzinger den Betroffenen zu, daß der „sinnliche Aspekt" des Schmerzes „genau das ist, was wir mit keinem anderen Menschen teilen können: Wir können die schneidende, pulsierende oder brennende sinnliche Qualität des Schmerzerlebens nicht teilen ..." (Vgl. „Ego-Tunnel", S.240) – Das ist eine bemerkenswerte Aussage, wenn man Metzingers andere Aussage daneben hält, daß das bewußte Erleben nur eine Simulation sei. Sicherlich kann man daran festhalten, daß auch der Schmerz nur eine Simulation unseres Gehirns ist und wir uns vom Schmerzempfinden befreien können, wenn wir die betreffende Gehirnregion operativ entfernen. Aber wir können so ziemlich alles in unserem Körper lahmlegen, wenn wir nur genügend Gehirnregionen operativ entfernen und dabei auch das verlängerte Rückenmark nicht vergessen. Macht das deshalb die Atmung oder den Pulsschlag zu einer bloßen Illusion?

Oder das Leiden? Wenn wir leiden, simulieren wir nicht. Im Gegenteil: alle unsere Simulationen lösen sich dort auf, wo das Leiden beginnt.

Irgendwie hängen alle Aussagen im „Ego-Tunnel" von der einen, immer wieder wiederholten Behauptung Metzingers ab, daß das Selbstbewußtsein keinen direkten Körperbezug habe. Daraus ergibt sich rein logisch, daß es keinen direkten Bezug zur äußeren Realität haben kann. Dann aber kann es – wiederum logischerweise – auch keinen direkten Bezug zu irgendeinem anderen Selbstbewußtsein als sich selbst haben, also zur Welt seiner Mitmenschen. Denn auch dieser Bezug müßte über die Sinneswahrnehmung und damit über einen direkten Bezug des Selbstbewußtseins zum Körper vermittelt sein. Dennoch erhebt Metzinger die Kommunikation unter großen Gruppen, insbesondere die Kommunikation „in wissenschaftlichen Gemeinschaften", zur einzigen, wahrheitsstiftenden Realitätsebene. (Vgl. „Ego-Tunnel", S.25, 243, 293, 302) Ohne Sinneswahrnehmungen sind aber gerade deren „empirische Daten" (S.25), auf die Metzinger so großen Wert legt, eben nichts mehr Wert.

Nun ist es aber besonders erschütternd, wenn wir im Fortgang der Lektüre feststellen müssen, daß Metzinger, nachdem er sich so große Mühe gegeben hat, das Selbst des Menschen zu virtualisieren und ihm jeden Körperbezug zu verweigern, mit ebenso großem Eifer künftigen Robotergenerationen eben diese Vorzüge zugesteht: künftige Roboter sollen „einen echten Begriff von sich selbst als einem Subjekt des Wissens und Erlebens besitzen" (Vgl. „Ego-Tunnel", S.271), und sie sollen sogar so etwas wie einen direkten Körperbezug haben. Denn wie soll man es anders verstehen, wenn Metzinger schreibt, daß künftige Robotergenerationen „bewusst fühlende Selbste" haben könnten, die „jeden Verlust der homöostatischen Kontrolle als schmerzhaft erleben" würden, ein Kontrollverlust, der „eine tiefe Form der Betroffenheit" beinhaltet, „von der sie sich kaum distanzieren könnten." (Vgl. „Ego-Tunnel", S.274) Das den künftigen Robotergenerationen zur Verfügung stehende Leidenspotential imaginiert Metzinger dabei in einer „Intensität, die wir, ihre fahrlässigen Schöpfer, uns noch nicht einmal vorstellen könnten" (ebenda). Ich frage mich: kann man sich einen direkteren (bzw. ‚intensiveren‘) Bezug zum eigenen Körper vorstellen? Und ist das bewußte Erleben, das dieser „Sorge über ihre eigene Existenz" (ebenda) zugrundeliegt, nicht so ‚echt‘ und so ‚authentisch‘, wie es nur sein kann? – Und all das gesteht Metzinger Robotern zu, – nur nicht dem Menschen!

Es hat etwas Entwaffnendes, wenn Metzinger zum Schluß die zentrale, seinem „Ego-Tunnel" zugrundeliegende These, daß wir kein Selbst haben, wieder zurücknimmt und das Gegenteil behauptet. Zunächst gesteht er ein, daß man vom Selbst auch anders reden kann, als er es bislang getan hat: nämlich nicht im Sinne einer substantiellen, unteilbaren Entität, sondern als von einem „weitverteilte(n) Vorgang im Gehirn" (vgl. „Ego-Tunnel", S.290). Allerdings wendet Metzinger gegen diese Definition des Selbst ein, daß wir mit ihr „unsere eigene Phänomenologie ... nicht wirklich ernst nehmen" (ebenda), sprich, daß wir alle unser Selbst anders erleben! Wieder einmal soll also das „dümmste Argument" gelten, daß uns etwas „auf eine ganz bestimmte Weise erscheint"? (Vgl. „Ego-Tunnel", S.192)

Was soll's! Denn endlich sagt Metzinger tatsächlich etwas wirklich Kluges: „Zusammenfassend kann man sagen, dass sowohl auf der Beschreibungsebene der Phänomenologie als auch auf jener der Neurobiologie das bewusste Selbst weder eine Form von Wissen noch eine Illusion ist. Es ist einfach das, was es ist." (vgl. „Ego-Tunnel", S.292) – Das ist ein wunderbares Schlußwort! Damit möchte ich hier gerne endlich den „Ego-Tunnel" zuklappen und zur Seite legen, – allerdings nicht ohne die letzten beiden Kapitel zu den „Bewusstseinstechnologien" und zu einer „neuen Art der Ethik" ausdrücklich zu empfehlen (S.289-338): Hier werden spannende Ausblicke auf gesellschaftliche Veränderungen eröffnet, und die Fragen, die Metzinger stellt, sind hochbrisant!

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Donnerstag, 13. Mai 2010

Neurophysiologie: Über Dummheiten (Intermezzo)

Metzinger führt zwei der seiner Ansicht nach „dümmsten Argumente“ zur Frage nach der „Freiheit des Willens“ auf: (1) „Ich weiß doch, dass ich frei bin, weil ich mich selbst als frei erlebe!“ (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.191) Dieses Argument ist Metzinger zufolge deshalb dumm, weil was auf der „Ebene des bewussten Erlebens ... erscheint, ... kein Argument für irgendetwas“ ist. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.192) – (2) „Das zweite Argument lautet: ‚Aber das hätte schreckliche Folgen! Deshalb kann es nicht wahr sein.‘“ Dieses Argument ist deshalb falsch, weil Metzinger zufolge die „Wahrheit einer Behauptung“ nichts mit „psychologischen oder politischen Konsequenzen“ zu tun hat. (Vgl. ebenda)

Zunächst grundsätzlich: Metzinger führt Thesen als Argumente auf. Daß diese Thesen einen Begründungszusammenhang beinhalten, macht sie noch nicht zu Argumenten im eigentlichen Sinne. Ihre Begründungsbedürftigkeit fällt deutlich ins Auge. Daß dieser Begründungszusammenhang noch geliefert werden muß, macht diese Thesen nicht ‚dumm‘. Denn erst der detailgenaue Begründungszusammenhang, also das Argument im eigentlichen Sinne, kann als intelligent oder ‚dumm‘ gekennzeichnet werden. Daß ich etwas so oder so erlebe und daß ich dieses Erlebnis ernst zu nehmen gedenke (die erste von Metzinger als „dümmstes Argument“ gekennzeichnete These), bildet deshalb zunächst einmal nur die Ausgangslage für eine Argumentation, – nicht mehr und nicht weniger.

Auch die zweite von Metzinger als „dümmstes Argument“ gekennzeichnete These beinhaltet zunächst mal nur, daß jemand behauptet, daß er keine ‚Wahrheit‘ akzeptieren kann, die für ihn inakzeptable humanitäre Konsequenzen hat. Auch das bedarf einer nachfolgenden, in sich stimmigen Argumentation. Erst wenn diese Argumentation an Stimmigkeit zu wünschen übrig läßt, darf Metzinger sie als irrelevant bzw. als ‚dumm‘ bezeichnen. Stattdessen stellt er dieser von ihm im vorhinein diskreditierten These eine eigene, bislang genauso wenig begründete These entgegen: daß nämlich Wahrheit nichts mit Psychologie oder Politik zu tun habe. Das läßt sich durchaus begründen. Aber Metzinger begründet sie nicht. Was soll man also davon halten?

Nicht minder schwerwiegend ist, daß Metzinger genau das, was er jenen „dümmsten Argumenten“ vorhält, selber tut. Im Endeffekt erteilt er also anderen Denkverbote, an die er sich selber nicht hält. Zum ersten ‚Argument‘: Metzinger argumentiert ständig mit bewußten und unbewußten Erlebnissen, in denen ihm etwas erscheint; so z.B. bei den von ihm selbst erlebten außerkörperlichen Erfahrungen (vgl. „Ego-Tunnel“, S.113-169) und in dem Kapitel über Traumerfahrungen (vgl. „Ego-Tunnel“, S.216-231). In seiner Diskussion über künftige Robotergenerationen, die mit einem eigenen ‚transparenten‘ (‚transparent‘ meint: für das Subjekt ‚unsichtbar‘) Weltmodell ausgestattet sind, ergreift Metzinger aus der Perspektive dieser Roboter heraus – stellvertretend für sie – Partei für ihr Leiden, das ihnen ihre Konstrukteure zugefügt haben (vgl. „Ego-Tunnel“, S.274f.); ein Leiden an der Würdelosigkeit nämlich, nur Artefakte zu sein, ohne eigenes Geburtsrecht: „... dass sie nur Bürger zweiter Klasse sind, vollständig entfremdete postbiotische Selbste, die als austauschbare experimentelle Werkzeuge benutzt werden.“ (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.275) – Gleich mehrfach verhält sich Metzinger hier nach seinen eigenen Maßgaben äußerst ‚dumm‘: erstens benutzt er das, was diesen künftigen Robotergenerationen auf der „Ebene des bewussten Erlebens ... erscheint“, als Argument (nach seinen eigenen Worten: dümmer geht’s nicht!), und er zieht daraus auch noch politische Konsequenzen: das Leiden „liefert auch ein grundsätzliches Argument gegen die Erzeugung von künstlichem Bewusstsein als ein Ziel der akademischen Forschung." (Vgl. „Ego-Tunnel", S.275) Wenn aber psychologische und politische Konsequenzen nicht wahrheitsfähig sind: wie will Metzinger das begründen? Die „Solidarität" „alle(r) empfindungsfähigen Wesen" (ebenda), die Metzinger hier in Anspruch nehmen möchte, hat er selbst zuvor schon jeder argumentativen Legitimität beraubt.

Nicht zuletzt besteht übrigens gerade Metzingers Methodik, die er selbst als „Phänomenologie“ beschreibt, darin, mit dem zu argumentieren, was und wie uns etwas erscheint: „‚Phänomenal‘ wird hier und nachfolgend im philosophischen Sinne verwendet und bezieht sich auf alles, was wir allein auf der Ebene des bewussten Erlebens erfahren, eben auf die Art und Weise, wie uns die Welt subjektiv erscheint.“ (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.18) Wo er sich also gegen das „dümmste Argument“ wendet, wendet sich Metzinger gegen sich selbst. Ist also Metzinger selbst ‚dumm‘? (‚Dummheit kennzeichnet ja durchaus gerade jene, die andere gerne als ‚dumm‘ diskreditieren!)

Als zusätzlich pikant erscheint mir Metzingers Verweis auf den philosophischen Sinn des Wortes ‚phänomenal‘, ist doch Metzinger selbst Philosophieprofessor. Hier hätte ich doch gerne etwas mehr über den philosophischen Hintergrund seiner ‚Phänomenologie‘ erfahren. Aber Metzinger diskutiert seine Thesen im „Ego-Tunnel“ grundsätzlich nie im Vergleich mit anderen, ihm widersprechenden Positionen. Also auch an dieser Stelle nicht.

Metzinger hat nämlich in seinem Buch eine Entscheidung getroffen, die jeder mir bekannten philosophischen Phänomenologie widerspricht: nämlich das bewußte Erleben als bloße Simulation zu kennzeichnen und jeden direkten Körperbezug unseres Selbstbewußtseins zu bestreiten. Er geht also bei der Wahrnehmung davon aus, daß sie eine bloße Konstruktion (Simulation) uns unbewußter Gehirnfunktionen darstellt. Das ist eine ernstzunehmende, durchaus diskutierbare Entscheidung. Aber als solche muß sie dann auch gekennzeichnet sein. Seltsamerweise versteht Metzinger seine Ausgangshypothese als Tatsachenbeschreibung, ohne auf all die logischen Probleme, die diese Position beinhaltet, einzugehen, geschweige denn, sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Phänomenologen gehen aber normalerweise von der gegenteiligen Hypothese aus. Sie gehen von der Wahrnehmung als Wirklichkeit aus, und begründen mit der Wahrnehmung die „Gewißheit der eigenen Erfahrung“. (Vgl.z.B. Lambert Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt a.M. 2009, S.9) Auch dies ist eine Entscheidung, die durchaus gut begründet ist. Eine ziemlich gute Begründung besteht z.B. darin, daß diese Gewißheit eine gute Grundlage für die Eigenständigkeit der individuellen Urteilskraft bildet. Mir gefällt diese Grundlage besser als die von Metzinger bevorzugte große-Gruppen-Kommunikation. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.25) Es gibt nämlich grundsätzlich nur zwei Quellen für unsere Gewißheiten. Als ‚Gewißheiten‘ bezeichne ich z.B. nicht unsere inneren Konstrukte wie z.B. Phantasien, Meinungen und Vorurteile. Gewißheiten haben die Eigenschaft, uns mit einer unserer Subjektivität fremden, objektiven Macht in Anspruch zu nehmen. Die beiden dafür in Frage kommenden Quellen sind Gruppendynamiken und Sinneswahrnehmungen. Gruppendynamiken (große-Gruppen-Kommunikation) gegenüber bin ich aus Erfahrung skeptisch. Um es mit einem meiner Lieblingsschriftsteller, mit Terry Pratchett zu sagen: Die Intelligenz einer Gruppe ist gleich der Intelligenz des Dümmsten in der Gruppe, geteilt durch die Anzahl der Gruppenmitglieder. (Dies ist jetzt natürlich keine ausführliche, sondern bestenfalls eine abgekürzte Argumentation.)

Es bleiben also nur die Sinneswahrnehmungen. Hier hat schon Rousseau gewußt, daß wir in bezug auf unsere Sinneswahrnehmungen gezwungen sind, unseren eigenen Verstand zu gebrauchen. Unser Verstand bildet und übt sich in der ständigen Beobachtung von Naturprozessen, weil er nur hier auf sich allein angewiesen ist. Die Natur ‚kommuniziert‘ nicht mit uns. Sie ist ‚stumm‘, wie Rousseau sagt. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als die Fragen, die wir an sie stellen, uns selbst zu beantworten. In Gruppen werden wir dagegen ständig mit Antworten konfrontiert, bevor wir überhaupt die Gelegenheit haben, Fragen zu stellen, geschweige denn sie selbst zu beantworten. Nach Rousseau macht uns das ‚dumm‘, weil wir uns daran gewöhnen, nicht selber zu denken.

Metzinger bewegt sich auf genau dieser Schiene des Dummhaltens. Er klärt uns nicht auf, sondern er sorgt dafür, daß seine Leser dumm bleiben, indem er sie genau jener Grundlage beraubt, die sie klug machen könnte: des bewußten Erlebens bzw. der individuellen Wahrnehmung.

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Sonntag, 9. Mai 2010

Neurophysiologie: Von Nährflüssigkeiten, Flugsimulatoren und Traummaschinen (Fortsetzung)

In meiner Lektüre des zweiten Teils von Metzingers „Ego-Tunnel“ glaube ich nun so weit vorangeschritten zu sein, daß ich wieder einiges dazu sagen kann. In meine bisherige Verwirrung hinsichtlich der zahlreichen logischen und inhaltlichen Widersprüche, mit denen Metzinger so sorglos arbeitet, kommt langsam etwas Klarheit. Metzinger liefert eine Fülle von hochinteressanten neurophysiologischen Daten, die nicht nur das Gehirn betreffen, sondern auch den übrigen Organismus, den „physischen Körper“, zu dem wir Metzinger zufolge keinen „direkten Kontakt“ haben. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.167)

Das Hauptziel von Metzinger liegt in der Darstellung des Gehirns als eines besonders leistungsfähigen Erzeugers virtueller Realität. Als Analogie für diese Fähigkeit wählt Metzinger den „Flugsimulator“ (S.158ff.). Metzinger zufolge gibt es nur graduelle, keine prinzipiellen Unterschiede zwischen den Gehirnfunktionen und einem Flugsimulator, d.h. das Gehirn ist auch den modernsten Simulationstechniken in seiner Rechengeschwindigkeit überlegen, die in „Echtzeit“ (vgl. „Ego-Tunnel“, S.164 (hier stellt sich sofort die Frage: ‚echt‘ in bezug auf was?)) stattfindet, seine Berechnungen sind zuverlässiger, und es hat „eine viel höhere Auflösung“. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.160) Prinzipielle Aspekte einer Differenz von Simulation und Realität werden hier nicht genannt: die Simulationsqualitäten der Gehirnfunktionen sind „total“. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.160) Zwar schreibt Metzinger, daß es „einen kontinuierlichen Strom von Input“ gibt, „der durch die Sinnesorgane geliefert wird“ (vgl. „Ego-Tunnel“, S.159); an dieser Stelle kommt er der Vorstellung einer „Wahrnehmungsschleife“ recht nahe. Aber weder beschreibt Metzinger an irgendeiner Stelle der vorangegangenen 160 Seiten, wie dieser Input zustande kommt (dazu müßte er die Wahrnehmung zum Thema machen; stattdessen verwendet er aber den Begriff der „Transparenz“, die ausschließlich als gehirninduziert dargestellt wird), noch hat dieses Zugeständnis an einen „Input“ der Sinnesorgane irgendeine Auswirkung auf Metzingers Darstellung des Gehirns als „Flugsimulator“, anhand dessen er die neurophysiologische Datenlage interpretiert.

Zwei Aspekte einer Differenz von Realität und Simulation werden von Metzinger an keiner Stelle diskutiert; auch dort nicht, wo er sich explizit positiv auf Neurophysiologen wie Antonio Damasio bezieht, der prononciert gegenteilige Vorstellungen über die organischen und neurophysiologischen Funktionen des Körpers vertritt. D.h. er übernimmt seine Forschungsergebnisse, geht aber nicht auf seine Interpretation dieser Daten ein.

Bei den genannten zwei Aspekten handelt es sich um die Wahrnehmungsschleifen von Chris Frith und um die Körperschleifen von Antonio Damasio. Bei den Wahrnehmungsschleifen geht es um die Differenz zwischen bloß phantasierten Weltmodellen des Gehirns und den in der „Wahrnehmungsschleife" stattfindenden Abgleich zwischen den realitätsbezogenen Weltmodellen des Gehirns mit den Sinneswahrnehmungen. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft" (2010), S.168). Es gibt eine meßbare Bevorzugung der Sinneswahrnehmungen durch das Gehirn, also eine beobachtbare „Wertschätzung" der äußeren Realität gegenüber reinen Phantasieprodukten, die in den Fehlerrückmeldungen der Wahrnehmungsschleife begründet ist. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft", (2010), S.182f.) Die eigenen ‚total‘ berechenbaren, sprich ‚fehlerlosen‘ Konstrukte können hinsichtlich ihrer Attraktivität mit der stets unerwarteten, unberechenbaren Realität nicht mithalten. Und es gibt keinen sowohl logisch nachvollziehbaren als auch unsere ‚Vorurteile‘ betreffenden (in dem Sinne, daß wir uns über unsere eigene Realitätsuntauglichkeit aufklären müßten) Grund, warum wir von den virtuellen Fähigkeiten des Gehirns her auf die prinzipielle Unzugänglichkeit zu unserem Körper bzw. zur äußeren Realität schließen müßten. Das macht weder einen wissenschaftlichen noch einen lebensweltlichen Sinn.

Bei dem anderen Aspekt handelt es sich um die von Damasio beschriebenen „Körperschleifen“. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.337ff.) Hier beschreibt Damasio den Gesamtorganismus einschließlich das Gehirn als eine Homöodynamik. Jede Wahrnehmung, jede Bewußtseinsleistung führt zur Veränderung innerer organischer Zustände, die in einem beständigen relativen Gleichgewicht zu den Zuständen in der äußeren Umwelt des Organismus gehalten werden. Ein wichtiger Bestandteil dieser Homöodynamik ist die Somatomotorik, d.h. der Zustand der Muskeln, der unmittelbar mit Emotionen verbunden ist, die wiederum vom Gehirn in Form von Gefühlen (Damasio unterscheidet zwischen Emotionen und Gefühlen) zur Kenntnis genommen werden. D.h. Gefühle sind als eine Form der Selbstbeobachtung des Gehirns zu verstehen, das sich beständig über die homöodynamischen Zustände ‚seines‘ Organismus (von dem es ein Teil ist) auf dem Laufenden zu halten versucht.

Die Aktivitäten der Muskeln, die Somatomotorik, ist dabei so wichtig, daß Damasio bezweifelt, daß wir ohne Muskelaktivität überhaupt Gefühle hätten. Das betrifft den ganzen Organismus, aber in einem vielleicht noch wichtigeren Sinne betrifft es unsere Gesichtsmuskeln. So sollen z.B. Frauen, die ihr Gesicht mit einem Nervengas behandeln lassen, um die Falten zu glätten, mit der damit einhergehenden Lähmung der Gesichtsmuskeln auch einen Verlust an Empathiefähigkeit erleiden. Damasio berichtet von Selbsterfahrungen von Patienten, die am ganzen Körper gelähmt gewesen waren und nur noch die Bewegungen der Augen und der Augenlider kontrollieren konnten. Diese Patienten hatten – obwohl im eigenen Körper ‚gefangen‘ – keinerlei Angstzustände. Sie befanden sich vielmehr in einem ausgeglichenen, teilnahmslosen inneren Zustand: ohne Kontrolle über unsere Muskeln also keine Emotionen und deshalb auch keine Gefühle.

Anhand dieser Erfahrungen bezweifelt Damasio, daß ein Gehirn in einer Nährlösung in der Lage wäre, „die Vielfalt von Körperzuständen zu simulieren, die entsteht, wenn solche Zustände von einem Gehirn ausgelöst werden, das mit Wertungen befaßt ist“, sprich: von einem Gehirn, das Gefühle hat. (Vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.304) Oder was den von Metzinger beschriebenen „Flugsimulator“ betrifft: „Das ‚Aussehen‘ von Emotionen kann simuliert werden, doch wie sich Gefühle anfühlen, lässt sich nicht in Silizium nachbilden. Gefühle lassen sich nicht simulieren, solange man Fleisch nicht simulieren kann, solange man nicht die Wirkung des Gehirns auf lebendiges Fleisch simulieren kann, solange man nicht simulieren kann, wie das Gehirn das Fleisch spürt, nachdem das Gehirn auf das Fleisch eingewirkt hat.“ (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.377) – Daß sich nur das „Aussehen“ von „Emotionen“ simulieren läßt (d.h. die aus der Dritte-Person-Perspektive beobachtbaren Emotionen, während Damasio die „Gefühle“ als Erste-Person-Beobachtungen der eigenen Emotionen beschreibt), bezieht sich z.B. auch auf die Aussage des im Interview befragten Traumforschers Allan Hobson, daß die „Aktivierung von Wahrnehmungs- und Emotionsmodulen“ in einer „Traummaschine“ kein technisches Problem aufwerfe. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.224)

Cyborgs wären also möglich, – bis zu einer Minimalgrenze, die darin besteht, daß es nichts bringt, lediglich das menschliche Gehirn in eine Maschine zu ‚verpflanzen‘, denn dort fehlte ihm das Feedback der Muskeln. Wenigstens ein menschliches Gesicht müßte es haben, d.h. als lebendiges Organ, um Gefühle in den maschinellen ‚Körper‘ hinein zu projizieren. Ein Gefühlschip, wie der von Data bei Enterprise, würde definitiv nicht genügen!

Nachtrag (17.05.10):
Es gibt mindestens zwei Möglichkeiten, die neurophysiologischen Daten zu interpretieren. Metzingers Interpretation gipfelt in der Feststellung: „Natürlich ist es nicht das Selbst, das das Gehirn benutzt ... – das Gehirn benutzt das Selbstmodell.“ (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.272) Das, was wir als Willensfreiheit erleben „ist immer nur auf ein sehr enges Fenster prämotorischer Aktivität begrenzt, auf lediglich einen Zwischenschritt in einem wesentlich längeren Vorgang“ (vgl. „Ego-Tunnel“, S.184), der „Präkonstruktion“ (vgl. „Ego-Tunnel", S.183f.), d.h. jener Prozesse in unserem Organismus, die die scheinbar freie Willensentscheidung anbahnen. Metzinger zufolge sind wir uns nur dieses „engen Fensters“ bewußt und halten die darin auftauchenden Phänomene und infolgedessen auch unsere Entscheidungen für spontan, für ‚frei‘. Sogar das ‚Veto‘, also die Freiheit, vorgebahnte (unbewußte) Entscheidungen zu widerrufen, wird in unserem Bewußtsein entzogenen Prozessen angebahnt. ((Vgl. „Ego-Tunnel“, S.185)

Das ist also Metzingers Version möglicher Schlußfolgerungen aus den neurophysiologischen Daten. Ganz anders Damasio: Bei ihm bildet die erste Stufe oberhalb der Bewußtseinsschwelle das „Kernselbst“, und er beschreibt es als die „ungeschminkte Evidenz, das unmittelbare Empfinden unseres individuellen Organismus im Akt des Erkennens.“ (Vgl. Damasio, „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.154) Ähnlich wie das „sehr enge Fenster“ erstreckt es sich über einen sehr kurzen Zeitraum von maximal drei Sekunden. Damasio beschreibt es deshalb als pulsierend, von Augenblick zu Augenblick, von Wahrnehmung zu Wahrnehmung und von Vorstellung zu Vorstellung. Das Kernselbst lebt mit den Gegenständen, auf die sich unsere Aufmerksamkeit richtet. Zugleich ist das Kernbewußtsein die „Nabelschnur“ (vgl. Damasio, „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.154), die das erweiterte Bewußtsein mit den unbewußten Lebensprozessen des Körpers verbindet, deren „gemeinsames Wesen ... der Körper (ist)“. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.341) Das Selbstbewußtsein ist also ein emergentes organisches Produkt der Lebensfunktionen eines mit seinem Körper wechselwirkenden Gehirns. Alles andere macht auch weder einen wissenschaftlichen noch einen lebensweltlichen Sinn. Denn ohne Selbstbewußtsein würden keine Bücher geschrieben, nicht einmal das von Metzinger.

Nach Damasios Interpretation werden wir also als selbstbewußte Lebewesen pulsierend und atmend von unseren organischen Lebensfunktionen getragen, anstatt sie nur als ängstliche kleine Voyeure durch ein winziges Guckloch zu belauern. Was mich betrifft: Ich finde, Damasio hat einfach die schöneren Argumente auf seiner Seite. Und Schönheit ist zumindestens ein Indiz auf der Waage der Wahrheit. Außerdem widerspricht er sich nicht so oft. Auf dieser Grundlage kann man dann durchaus auch über die von der Neurophysiologie beschriebenen verblüffenden Leistungen des Gehirns hinsichtlich der Selbsterfahrung und der Wirklichkeitserzeugung staunen und reden.

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Mittwoch, 5. Mai 2010

Neurophysiologie: Was ist Realität? (Fortsetzung)

Der uneingeschränkte Reduktionismus vieler Neurophysiologen führt zu entsprechend starken Aussagen, wie z.B. daß der ‚Körper‘ (und das Gehirn ist ja immerhin unbestreitbar ein Teil dieses Körpers) nur eine Illusion des Gehirns sei. Damit einher geht die nicht minder starke Aussage, der Realitätsbezug sei nur simuliert, mithin also auch die Realität eine Illusion. In Metzingers Fall wird dabei die Existenz einer Außenwelt keineswegs geleugnet. Nur das, was wir von ihr wahrnehmen, ist eine Illusion. Doch da unser Bild von der Realität illusionär ist, ist es auch die Realität selbst, denn letztlich ist diese auch in der Philosophiegeschichte nie etwas anderes gewesen als unsere Wahrnehmung von ihr. Denn die Wahrnehmung ist der Ursprung der ‚Empirie‘, – nicht mehr und nicht weniger.

Immer wieder spielen die betreffenden Neurophysiologen gerne mit der Vorstellung, das nackte Gehirn schwimme in einer Nährlösung und erträume sich dort einen Körper und die ganze Außenwelt (vgl. Metzinger 5/2009, S.40). Antonio Damasio spricht in diesem Zusammenhang von einer „bemerkenswerten Abwesenheit eines Organismusbegriffs in der Kognitions- und Neurowissenschaft“. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.55) Er selbst spricht nicht von einem bloß simulierten Körper- und damit Realitätsbezug, sondern er beschreibt den Organismus als einen „neuronalen Raum“, der „Körper und Gehirn in Wechselwirkung“ umfaßt. (Vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.166)

Damit wird der Körper den Gehirnfunktionen nicht irgendwie schattenhaft und unwirklich gegenübergestellt, sondern er ist ein wesentlicher und unverzichtbarer Teil davon. Das ‚Innere‘ des Menschen wird nicht mehr als Fluchtpunkt rätselhafter zentralnervöser Mechanismen imaginiert, sondern die „Haut“ kommt wieder zu ihrem angestammten, evolutionären Recht, nämlich als Grenzfläche zwischen Innen- und Außenwelt zu fungieren. (Vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.127 und „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.167f.) Denn so sehr die erwähnten Neurophysiologen auch von ihren seltsamen Nährlösungen besessen sein mögen: sie können nicht bestreiten, daß die Organismusthese von Damasio den klaren Vorzug hat, erklären zu können, wie das Gehirn entstanden ist, nämlich in einem evolutionären Prozeß, „von den einfachsten bis zu den komplexesten Formen“, in dem die bevorzugten Forschungsobjekte der Neurophysiologen damit betraut waren, ihren Körper (Damasio spricht hier vom „Primat des Körpers“) am Leben zu erhalten. (Vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.305) Ein entsprechendes Primat läßt sich für die erwähnte Nährlösung in keiner Weise begründen.

Mit diesem Primat für den Körper, dem sich auch das Gehirn und mit ihm die Neurophysiologen zu fügen haben, ergibt sich nun in der Tat ein hartes, keineswegs illusorisches Realitätsprinzip: das Handeln, also das Einwirken auf die Wirklichkeit, die wiederum alles beinhaltet, was unser Überleben gleichzeitig bedroht und ermöglicht.

Nun habe ich von den ‚starken‘ Aussagen der Neurophysiologen gesprochen. Damit meine ich, daß sie dazu neigen, ihre Aussagen nicht zu relativieren, und daß sie es versäumen, ihre Gültigkeit auf bestimmte Aspekte ihrer Forschung einzuschränken. Denn gegen die Formulierung, der Körperbezug sei nur eine Illusion, läßt sich leicht mit dem dringenden Bedürfnis des Gehirns nach Blut und Sauerstoff und – warum nicht? – nach so etwas wie einer ‚Nährlösung‘ argumentieren. Über die entsprechenden Notwendigkeiten sind wir uns alle sehr bewußt, und der Körper versäumt es nicht, uns auf einer Dringlichkeitsskala von ‚dezent‘ bis ‚verzweifelt‘ darauf hinzuweisen. Nur etwas anders formuliert wäre die hinter den neurophysiologischen Erkenntnissen stehende Einsicht aber unbestreitbar. So spricht Chris Frith z.B. nicht einfach vom ‚Körper‘, sondern von der „Welt unseres Körpers“, zu der „wir nicht in direkter Verbindung“ stehen. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft“, (2010), S.208) Diese Aussage ist unbestreitbar richtig (z.B. müßten wir schon ein Küchenmesser zu Hilfe nehmen, um einen unmittelbaren Einblick in die Beschaffenheit unserer inneren Organe zu bekommen, was wir allerdings nicht lange überleben würden), und sie enthält keineswegs, daß wir mit der Unzugänglichkeit der ‚Welt‘ des Körpers zugleich keinen Zugang zum Körper hätten. Die Wechselwirkung zwischen Gehirn und dem übrigen Körper umfaßt alle Lebensprozesse, das Bewußtsein eingeschlossen.

Friths „Welt des Körpers“ entspricht Damasios „Modell-des-Körpers-im-Gehirn“ (vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.36), das ebenfalls weitgehend unbewußt ist. Damasios Konzept des erweiterten Bewußtseins erstreckt sich über verschiedene Ebenen von den einfachen organischen, eben ‚unbewußten‘ Funktionen eines Proto-Selbst bis hin zur Ethik und zu Gewissensphänomenen. Übrigens zeigt dieses Beispiel, wie interpretationsbedürftig die angeblich so harte Faktenlage der Neurophysiologie ist. Dieselben Daten zugrundegelegt kommt der eine (Metzinger) zum Konzept eines Ego-Tunnels und der andere (Damasio) zum Konzept eines erweiterten Bewußtseins. Jedenfalls beschreibt auch Damasio, daß die allermeisten Lebensprozesse unserem Bewußtsein entzogen sind und diese Lebensprozesse dennoch unser Denken und Wollen beeinflussen. Dennoch erweitert das Bewußtsein den Horizont unseres Handelns und damit die Möglichkeiten, auf die Wirklichkeit im Dienste des Überlebens (und sonstiger Bedürfnisse) Einfluß zu nehmen. Wo die einen also das Bewußtsein aus derselben Datenlage für null und nichtig erklären (gesteuert und determiniert durch das Gehirn), erhält es bei Damasio die Würde einer äußersten (und deshalb auch besonders verletzlichen) Anstrengung des Organismus, sich in der Welt, in der es sich entwickelt hat, zu behaupten.

Chris Frith jedenfalls gelingt es durch seine Formulierung von der dem Bewußtsein unzugänglichen „Welt des Körpers“, trotzdem den Körper selbst in seine Interpretationen der neurophysiologischen Forschungsergebnisse einzubeziehen, nämlich über die Thematisierung der sinnlichen Prozesse der Wahrnehmung und des Handelns (die Husserl übrigens als „Kinästhetik“ bezeichnet hat – denn die Philosophen, jedenfalls die, die wirklich gut sind, können durch bloße Versenkung (Meditation) durchaus zu gelegentlich naturwissenschaftlich belegbaren Einsichten gelangen). Der für mich interessanteste Aspekt dieser Interpretationen betrifft die von Frith beschriebenen Wahrnehmungsschleifen. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft“, (2010), S.168) Diese Wahrnehmungsschleifen erinnern wiederum an Damasios „Körperschleifen“. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.337ff.) Die Wahrnehmungsschleifen beschreibt Frith ganz ähnlich wie Damasio mit den Körperschleifen als ständigen Wechselbezug zwischen dem Gehirn und dem übrigen Körper. Bei den Wahrnehmungsschleifen registriert das Gehirn die ständig eingehenden somatosensorischen Signale (bei Damasio ist das Gehirn das „faszinierte“ Publikum bzw. Auditorium, das den inneren Körperprozessen lauscht (vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.16 u.ö.). Die Wahrnehmungsschleife besteht dabei aus „A-priori-Auffassungen“ über die Welt, mit deren Hilfe das Gehirn Vorhersagen darüber macht, was da draußen vor sich geht, die dann mit den tatsächlich eingehenden Sinnessignalen abgeglichen und nötigenfalls korrigiert werden.

Wichtig ist daran vor allem, daß sich das Gehirn durch die Wahrnehmung in seinen ‚Vorhersagen‘ (also in seinen Konstrukten) von den Sinnessignalen korrigieren läßt. Es selbst – womit gemeint ist: der nicht bewußte Teil der Gehirnfunktionen – nimmt also offensichtlich den körperbasierten Realitätsbezug sehr ernst. Und Frith kann sogar zeigen, daß unser Gehirn die Realität nicht nur sehr ernst nimmt, sondern sie auch seinen eigenen, von jeglicher Realität unbelasteten Konstrukten eindeutig vorzieht: die Realität ist ihm lieber (jedenfalls reagiert es intensiver auf sie) als seine Phantasieprodukte! (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft“, (2010), S.182f., 189) Phantasieprodukte sind nämlich vorhersehbar und deshalb langweilig (man denke nur an das bedauernswerte Gehirn, das sich in seiner Nährlösung vor sich hin langweilt). Wir brauchen die Außenwelt und die Sinne als Brücke zu ihr, um in dieser Außenwelt unsere inneren Konstrukte der Bewährung (der Fehlerkorrektur) auszusetzen. Erst „dieses ständige Unerwartete (macht) das Wechselspiel mit der realen Welt so faszinierend“. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft“, (2010), S.182f.)

Wenn in allen diesen neurophysiologischen Büchern der Körper und die Realität als simulierte Illusion beschrieben werden, so beinhaltet das immer auch eine Verengung der Phänomene auf die sie analysierenden Begriffe, mit denen der Alltag, in dem wir leben, nur wenig zu tun hat. ‚Realität‘ wird dann mit einer Aura falsch verstandener Unmittelbarkeit ausgestattet, von der unsere Wahrnehmung getrennt wird: hier die Realität und dort die Wahrnehmung; und der ‚Körper‘ wird seiner organischen Ganzheitlichkeit entkleidet und in das Gehirn und den Rest zerlegt, der dann als Körper natürlich recht armselig daherkommt. Es gibt aber gar keinen Grund, die Realität von der Wahrnehmung zu trennen, um dann die Wahrnehmung der Realität selbst, auf die sie untrennbar bezogen ist, als bloße Simulation abzutun. Vielmehr ist die Realität unsere Wahrnehmung von ihr, und diese Wahrnehmung ist selbstverständlich nicht beliebig, sondern, wie Frith es anhand der Wahrnehmungsschleife beschreibt, aufgrund unserer Bewegung und unseres Handelns ständig der Korrektur durch die Realität unterworfen (Kinästhetik). Diese Verbindung von Realität und Wahrnehmung als einer Einheit und dann wiederum die Realität als korrektives Korrelat der Wahrnehmung ist nur dann widersprüchlich, wenn wir davon ausgehen, daß es die Welt jenseits unserer ‚Haut‘ (bzw. der bei Neurophysiologen so beliebten Blut-/Hirnschranke) nicht gibt.

Darauf, daß ich keine direkte Verbindung zur Welt meines Körpers habe, kann ich also gut verzichten, solange ich nur – in Abwandlung eines Wortes von Schopenhauer – meine Hand darauf legen kann, mit dem beruhigenden Gefühl einer unmittelbaren Berührung meiner selbst.

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